January 2014 // Noire Noire – Part 1

Der Durchgang

Text: Franziska Müller / Tobias Lambrecht

Die nächste Eigentümlichkeit, die an schönen Objekten ständig beobachtet werden kann, ist Glätte – eine Qualität, die der Schönheit so wesentlich ist, dass ich mich keines schönen Dinges erinnere, das nicht glatt wäre. An Bäumen und Blumen sind glatte Blätter schön, in Gärten glatte Abhänge, in der Landschaft ein glatter Wasserlauf; in der Tierwelt ist schön ein glattes Vogelgefieder oder ein glatter Tierpelz; an einer hübschen Frau eine glatte Haut; und an den verschiedenen Arten von Zierat ist schön eine glatte, polierte Oberfläche.[i]

„Spiegeln Sie mich doch einfach und lassen Sie den Rest bleiben“ sagt Narziss zu seinem Smartphone-Display und geht in einen zufällig gewählten Gemischtwarenladen. Die Waren in zwei zufällig gewählten Gemischtwarenläden überschneiden sich kaum. Nimmt man aber 364 Gemischtwarenläden, haben im Durchschnitt alle dasselbe im Angebot. „Das ist die Regelmässigkeit im Zufall“, denkt Narziss. Später grosser Ärger, dass der von ihm zufällig gewählte Gemischtwarenladen keine Sternkarten führt.

Space is all one space and thought is all one thought, but my mind divides its spaces into spaces and thoughts into thoughts into thoughts. Like a large condominium.

Occasionally I think about the one Space and the one Thought, but usually I don’t. Usually I think about my condominium.

The condominium has hot and cold running water, a few Heinz pickles thrown in, some chocolate-covered cherries, and when the Woolworth’s hot fudge sundae switch goes on, then I know I really have something.[ii]

Narziss geht morgens zur Bushaltestelle und guckt nach oben. Der Himmel ist zwar angenehm blau, will aber wieder nicht spiegeln. Narziss spuckt aus Wut senkrecht in die Luft und trifft sich dabei ins eigene Auge. So eine Schweinerei, will eine Zuschauerin schreien, ist dann aber von Narzissens nassem Blick sehr gerührt und verzeiht sofort allen, aber dem Hund nicht.

When a person comes into his chamber, and finds the chairs all standing in the middle of the room, he is angry with his servant, and rather than see them continue in that disorder, perhaps takes the trouble himself to set them all in their places with their backs to the wall. The whole propriety of this new situation arises from its superior conveniency in leaving the floor free and disengaged. To attain this conveniency he voluntarily puts himself to more trouble than all he could have suffered from the want of it … What he wanted therefore, it seems, was not so much this conveniency, as that arrangement of things which promotes it.[iii]

Narziss geht mit ausgestrecktem Arm in den Louvre. Er hält sein Smartphone so, dass seine Reflexion im Display das Haarrund der Mona Lisa ausfüllt. „Was ist jetzt dein Geheimnis, Mona?“, fragt Narziss auf französisch (dann auf italienisch).

Daß die Erde um die Sonne läuft, und daß, wenn man eine Schreibfeder kippt, diese Spitze mir ins Auge fliegt, ist alles ein Gesetz.[iv]

Das Auge aber, denkt Narziss, ist eine Linse, die das Licht einfängt. Wenn ich ein vor mir befindliches Licht, etwa einer brennenden Kerze, betrachte, gelangt die Erregung der Netzhaut über das Zwischenhirn zu den Sehzentren zum Bewusstsein. Wie alle Kausalverläufe ist auch dieser im Prinzip umkehrbar. Es muss also möglich sein, sich ein Licht, etwa einer brennenden Kerze, so lebhaft vorzustellen, dass man dadurch über das Zwischenhirn die Netzhaut in Erregung bringt, so dass diese Erregung über die Linse das Kerzenlicht in die Aussenwelt projiziert. Um die so erzeugte Halluzination photographieren zu können, muss man natürlich die Augen offen halten, weil sonst aus ihnen das Licht ebenso wenig heraus kann als es bei geschlossenen Augen in dieselben einzudringen vermag.

Narziss geht oft in Ausstellungen. Kunst geschieht!, denkt er. In den Ausstellungen sind die Bilder meist nur mit unzulänglichem Schutz- statt Spiegelglas verdeckt. Die Selbsterkenntnis wird durch die viele Farbe erschwert. Narziss bellt: „Seht doch einfach gut aus und lasst den Rest bleiben.“ Eine kompetente Person erklärt ihm erschöpfend, was Kunst ist, aber Narziss hat es bereits verstanden: Es hat nichts mit Schönheit zu tun sondern mit Reflexion von Schönheit.

Looking at the „Face on Mars“ at Cydonia, the outer edge of the site appears to be of a uniformity that would not have occured randomly in nature but would have been purposely constructed. The inner facet at the top of the picture also is an absolutely “straight” line as well which would also not occur in normal geological events. Is there another explanation for this?[v]

In einem Sci-Fi-Film hat Narziss gesehen, wie Tom Cruise vor einer Wand aus lauter Bildschirmen steht und mit eleganten Wischbewegungen transluzente Formen und Farben dirigiert. Narziss kauft sich viele kleine Bildschirme, kachelt damit eine Wand und trägt sie zu den Ureinwohnern von Kydonien. Dort mimt er für die Ureinwohner, was er von Tom Cruise gelernt hat. Die Ureinwohner interessieren sich nicht für die längst bekannten Touchscreens, aber ihnen gefällt das Gebaren von Narziss ungemein. Die findigste Kydonierin organisiert einen Zaun, ein Tickethäuschen und Kurse, in denen man gegen Bezahlung „Synchron-Gebärden-mit-Narziss“ üben kann. Berühren darf die Bildschirmwand nur Narziss, weil die Kydonier fürchten, dass er sonst verschwindet und sie im Badezimmer turnen müssen.

Narziss googelt, warum ein Sternbild nach den Plejaden benannt wurde, aber nach ihm nur der Asteroid 37117. Er lernt dabei rein gar nichts, ausser, dass die Plejaden kein Sternbild sondern ein offener Sternhaufen sind. Darüber freut er sich diebisch, aber es nützt ihm und seinen näheren Angehörigen herzlich wenig. Narziss entdeckt, dass der Nachthimmel eine hervorragende Arena für seine umwerfende Schönheit böte, wäre er nur etwas glatter, weniger tief und auf eine intelligente Art und Weise weiss.

Was ist aber der Grund, daß dies als Ursache gelten soll? Es gibt sieben Vokale, sieben Saiten oder Harmonietöne auf dem Instrument, sieben Plejaden; mit sieben Jahren wechseln die Kinder, manche wenigstens, manche auch nicht, die Zähne; sieben Fürsten zogen gen Theben. Ist nun die Eigentümlichkeit dieser Zahl schuld daran, daß es gerade sieben waren, oder daß die Plejade aus sieben Sternen besteht? oder war es nicht vielmehr die Zahl der Tore oder sonst eine andere Ursache, die es bewirkte? Wir zählen in der Plejade sieben, im Bären aber zwölf Sterne, und andere zählen noch mehr.[vi]

In einer schwarzen Nacht spaziert Narziss im Kreis um einen schönen See und ereifert sich über die Unterschiede zwischen dem Mond und der Sonne. Während die Sonne einfach leuchtet, denkt er, strahlt der Mond im uneliminierbar kühlen Weiss der Sparlampe. Heute strahlt kein Mond, keine Sterne, und kein Lichthauch bricht sich an der Oberfläche des Sees. Narziss will nach hause. Er marschiert nur deshalb unaufhörlich um den See herum, weil der leichte Matsch am Ufer die einzige Orientierungshilfe bietet. Solange Narziss das leise Schmatzen unter seinen Sohlen fühlt, weiss er, wer er ist.

[i] Edmund Burke, Vom Erhabenen und Schönen

[ii] Andy Warhol, The Philosophy of Andy Warhol

[iii] Adam Smith, Theory of Moral Sentiments

[iv] Georg Christoph Lichtenberg, Aphorismen

[v] http://words.nasaimages.org/2011/11/01/the-milky-way/

[vi] Aristoteles, Metaphysik